MOTIVATION UND GEDANKEN DER AUTORIN
Bei meinem letzten Dokumentarfilm "Der letzte Coiffeur vor der Wettsteinbrücke" wurde ich durch den "Kischtli-Coiffeur" Charly Hottiger und seine Kunden, viele Ehemalige des "Bürgerlichen Waisenhauses Basel" (auch "Kischtli" genannt), mit der Thematik der "Ersatzfamilie" konfrontiert.

Die Ehemaligen waren uneheliche Kinder oder konnten von ihrer Familie oder dem verantwortlichen Elternteil wegen Armut oder Krankheit nicht mehr betreut werden und kamen deshalb ins Heim. Einige hatten die Zeit im "Kischtli" positiv in Erinnerung, andere haben unter ihrem Status als "Heimkind", unter Einsamkeit und dem Gefühl nicht geliebt zu werden, sehr gelitten. Diese Erlebnisse und Erfahrungen brachten mich zu der Frage, wie es heutigen Heimkindern ergeht, was heute die Gründe für eine Einweisung sind und welche individuellen Biographien dahinterstecken. Ziel ist es einen tiefgründigen Dokumentarfilm über die Realität des Heimlebens und zugleich einfühlsame Porträts über Jungen und Mädchen zu machen, deren Abenteuer spannend, humorvoll und voller Überraschungen sind.
Ein Film über Heimkinder ist auf den ersten Blick ein schwermütiges Unterfangen. Die Kinder und Teenager kommen aus schwierigen Familienverhältnissen, in denen Alkohol, häusliche Gewalt, Drogen oder psychische Krankheiten die Ursachen der Zerrüttung sind. Der Fokus des Films soll aber nicht nur auf dem (familiären) Hintergrund der Jungen und Mädchen liegen, sondern auf ihren Träumen und Sehnsüchten. Gezeigt werden soll das „Innen“ und „Aussen“ des Heimlebens, aber auch das Innen- und Aussenleben der Hauptfiguren. In Einzelporträts und Interviews möchte ich jede einzelne Persönlichkeit nachzeichnen: Wer sind die Vorbilder meiner Protagonisten? Was ist ihrer Meinung nach ein „richtiger“ Mann, eine „richtige“ Frau? Wie sehen sie ihre Zukunft? Was sind ihre Hoffnungen und Ängste? Die Idee ist, die Heimkinder im Spannungsverhältnis von „drinnen“ und „draussen“ zu zeigen. Dabei geht es mir nicht darum, fertige Antworten zu geben, sondern den jugendlichen und erwachsenen Zuschauern Lust zu machen, sich mit den aufgeworfenen Fragen auseinanderzusetzen.
„WIR VOM HEIM“ ist ein zeitgemässer Film zu einem aktuellen Thema, das bisher noch nicht so dargestellt worden ist und bis vor ein Paar Jahren auch noch nicht so hätte dargestellt werden können. Das Neuartige am Film hat mit der neuen Kommunikationstechnologie und mit dem "Medienbewusstsein" der jungen Generation zu tun. Da die Protagonisten des Films mit „Big Brother“ und „Pop-Star“ aufgewachsen sind, sehen sie Video als selbstverständliches Kommunikationsmedium und nutzen die Kamera bewusst als Spiegel und zum Teil als Plattform, um sich zu inszenieren. Zugleich sind sie es gewohnt mit modernen Medien wie Foto-Handys und Digitalkameras umzugehen. Ich werde diese Kompetenzen der Jugendlichen gezielt als ästhetisches Bestandteil des Films einsetzen und die Protagonisten bitten, ein Art Video-Tagebuch zu führen, das im Schnitt in die einzelnen Porträts integriert wird. 
Mich interessiert an diesem Punkt insbesondere das Spannungsfeld zwischen Repräsentation und Individuum: Wie präsentieren sich die Hauptpersonen? Und: Wie stellen sie ihre Beziehungen zu ihrer Umwelt dar, was betrachten sie als erzählenswert, welche Lebensentwürfe und Zukunftsbilder haben sie, wie nehmen sie sich und ihr Leben wahr? 
Was früher das Kino und der (Schund-)Roman war, ist heute das Fernsehen und die Magazine: Es bedient sich der (jugendlichen) Träume und bietet eine Realitätsflucht, denken wir etwa an die zahlreichen Casting-Sendungen wie "Popstar", "Music-Star" etc.. In meinem Film versuche ich nun, den von Medien und Hochglanzheftchen genährten Vorstellungen nachzugehen und sie mit den Alltäglichkeiten und kleinen und grossen Problemen der Jugendlichen zu konfrontieren. Mit dieser doppelten Strategie möchte ich mich der Lebenswelt der Jungen und Mädchen annähern, deren Wunschträume von der Banalität und manchmal Brutalität des Alltags eingeholt werden.
Die Idee Kinder und Jugendliche, die sich in einer Extremsituation befinden, auf ihr Weltbild und ihre Zukunftswünsche zu befragen und im gesellschaftlichen Kontext zu betrachten, verspricht beim Zuschauer spannende und emotionale Fragen aufzuwerfen: Was ist individuelle Freiheit und wo endet sie? Welche Rolle spielen Grenzen in unserem Leben? Was ist soziale Anpassung und was gesellschaftliche Verantwortung? Was bedeutet Glück und Erfolg? Diese Fragen haben mit dem Prozess der Selbstfindung und Abgrenzung zu tun und sind allgemein bei Jugendlichen, aber besonders bei sogenannten "Problemkindern", ein zentrales Thema.
Die Protagonisten, die ich ausgewählt habe, haben grosse Freude am Filmprojekt: Einige sind scheu und wollen nicht interviewt werden, dafür lassen sie sich aber gerne im Alltag filmen, andere erzählen gerne von sich, ohne jedoch exhibitionistisch zu sein. Der Film will sich ganz klar von der oberflächlichen Reportage und den reisserischen Beiträgen des Privatfernsehens (etwa Spiegel-TV) abgrenzen und keinen Voyeurismus bedienen, sondern Einsicht geben in das (Innen-)Leben interessanter und komplexer Persönlichkeiten.

Aus dem „Casting“ der 61 Jugendlichen habe ich Jungen und Mädchen ausgewählt, die als Individuen eine eigenwillige Persönlichkeit, und als Gruppe einen Querschnitt durch die sozialen Schichten und Nationalitäten geben, die im Heim vertreten sind. Ich bin davon überzeugt, dass meine Protagonisten die Herzen der Zuschauer gewinnen werden - meines haben sie bereits erobert. Das reduziert sich nicht nur auf die Jugendlichen, die über Charme und Witz verfügen. Ich respektiere auch die Intensität und Verbissenheit des einen oder die Verschlossenheit des anderen. In diesen Verhaltensweisen und Charaktermerkmalen erkennen wir uns selbst und das macht sie uns sympathisch.

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